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Stärkt die Risikointelligenz in den Schulen!

Wie kann Bildung nach der Corona-Krise in den Schulen besser, moderner und menschlicher gestaltet werden als vorher? Einfach zum Regelbetrieb zurückzukehren, wäre eine vertane Chance. So lässt sich die Fragestellung von Manuel J. Hartungs Artikel in DIE ZEIT Nr. 24/2020 zusammenfassen.

Dafür braucht es ein Umdenken. Ich will Ihnen als Leser Rezepte dafür liefern und ein Plädoyer für neue Lernsituationen. Es gilt etwas zu wagen, die Zeit für die Beziehungskultur im Bildungssystem ist reif. Wissensvermittlung war früher das Ziel – heute brauchen wir gelingenden, stärkenden und würdigenden Beziehungsunterricht. Hier ist das eigentliche Potenzial verborgen.

Schulen blieben durch den Corona-Lockdown lange Zeit stillgelegt. Das Lernen fand im virtuellen Raum statt. Der Lernort wandelte sich. Er befindet sich nunmehr bei den Schülern zuhause. Einige haben die medialen Voraussetzungen, auf Tablets Aufgaben zu bearbeiten, zu Hause gefunden, andere haben keine häuslichen passenden Situationen. Oft hat der Tag „at home“ erst spät begonnen. Die Eltern sind als Helfer nicht präsent und überfordert. Der Tagesrhythmus ist nicht berechenbar. Die Schule kann nur zeitweise im Präsenzmodus besucht werden.

Viele Pädagogen lernen, im Fernunterricht zu arbeiten. Sie sprechen online mit den Schülern. Sie stellen Fragen, stimmen nächste Aufgaben ab und besprechen ihre Lösungen. Im direkten Kontakt, da wo es möglich ist, kann so eine Atmosphäre des Zutrauens entstehen. Die Eltern können sich oft nur schwer durchsetzen, wenn es darum geht, ihre Kinder zu aktivieren, sie aus dem Bett zu bewegen und arbeitsbereit zu machen oder ihnen etwas zu erklären.

Die Schule als Lernort mit Fächern, Aufgaben und Tests wandelt sich weiter – auch ohne Konzepte und ohne Vorgaben. Schüler sitzen auf Distanz, mit oder ohne Mund-/Nasenschutz, und arbeiten in einer halb so großen Klassenbesetzung in Kleingruppen. Sie fühlen sich dort persönlich gesehen und angesprochen, arbeiten im Tandem und lernen kooperativ zu arbeiten, zumindest an einigen Schulen.

Die selbstorganisierten Tage zuhause haben auch Energien freigesetzt.
Es geht darum, an diesen kreativen und schöpferischen Lösungen dranzubleiben. Mut zu haben, offene Lernformen zu praktizieren, die Eigenverantwortung und Initiative freisetzen. Die Schulen sind nicht zusammengebrochen. Und zugleich ist das Potenzial an Initiative und Eigenverantwortung noch nicht ausgeschöpft. Die Gefahr ist groß, dass wieder auf Regelungen gewartet wird.

Auch im Bildungsbereich, nicht nur in den Unternehmen, geht es jetzt um das Verständnis von „New Work“. Eltern bringen aus ihrer Arbeitswelt auch Lösungen mit. Sie sind aufgeschlossen dafür. Es braucht ein kooperatives Miteinander, auch zwischen den Eltern. Gebt den Schülern eine Bühne, dass sie zeigen und erklären können, wie sie sich untereinander geholfen haben. Die Lösungskompetenz und das Lösungspotenzial unter den Eltern und den Schülern ist größer als gedacht.

Wie entsteht aus der Corona-Krise, trotz aller Befürchtungen, nun die Entfaltung? Es ist eine Situation entstanden, wo wir nicht auf Lösungen von den Kultusministerien zu warten brauchen. Ein Teil dessen heißt, die Lehrerrolle verändern. „Es ist wichtig, dass wir die Rolle der Lehrkräfte neu denken, dass wir sie eben nicht nur als Wissensvermittler, sondern auch als Coach, als Mentor, als Begleiter, als Sozialarbeiter sehen,“ wird der OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher in einem Spiegel-Artikel vom 27. April 2020 zitiert.

Es entstehen neue Rollen und Beziehungen. Lehrer arbeiten dann mit anderen Methoden, mit Fragen, Feedback und im Beziehungsmodus. Schüler erleben sich als persönlich wahrgenommen und wertgeschätzt. Schule lebt so unter veränderten Bedingungen von Kontakt, von der Aufmerksamkeit und der Präsenz der Lehrern. Die Schüler selbst erleben sich mündig und ernst genommen, da sie direkt angesprochen sind. Das ist die Zukunft des Präsenzunterrichts.

Wie gelingt nun der Dialog? Wie haben auch die Eltern die Chance, als Partner ernst genommen zu werden? Vielfach mangelt es an Technologie, an Anleitung, einem gestärkten Rollenverständnis und an Verständnis für die Begleitung ihrer Kinder. Alles neue und veränderte Geschehen und Erleben bedarf der Beziehung und der Präsenz der Pädagogen und Eltern als resonante Gegenüber.

Früher dominierte das Unterrichtsgeschehen als Wissenvermittlung und Anleitung im Kompetenzlernen. Jetzt ist eine neue Lernwelt im Entstehen. Sie gründet sich auf die Autonomie der Schüler, ihre Erwartung an Selbstwirksamkeit und die von den Schülern mit den Lehrern gelebte Interaktion. Wo bleiben die Eltern mit ihrem Potenzial?

1. Lernen ist ein Wagnis. Indem wir als Lehrer und als Eltern einen Schritt zurücktreten, statt uns im Zweifeln zu verlieren, können wir uns wahrnehmen und die neue Rolle lernen. Viele Lehrer agieren inzwischen in Partnerschaft zu den Schülern, im Dialog, und sehen ihre Rolle mit anderen Augen. Sie arbeiten im Kontakt, handeln in Interaktion und stärken die Erwartung ihrer Schüler an sich selbst. So entsteht entfaltete Kompetenz und Sicherheit.

2. Akzeptanz und Empathie für die Schüler. Wahrnehmen bedeutet, achtsam und aufmerksam Schüler in Aktion und Interaktion erleben. Schüler werden begleitet, sie erfahren Aufmerksamkeit, Ermutigung und Bestätigung im Spiegel des Feedbacks.

3. Präsenz im Raum. Als Pädagoge oder Eltern für die Schüler, Kinder und Jugendlichen erkennbar bleiben heisst: „Du bist anwesend“ und nicht in Deinen Gedanken bei einer Aufgabenerklärung, bei eigenen Themen, vorgegebenen Ergebnissen oder bei einer anderen Tätigkeit. Was ist neu und verändert in der offenen Beziehungsschule? In den Fokus rückt „die Psychologie des Selbstvertrauens“. Sie wurde bereits 1977 von dem kanadischen Psychologen Albert Bandura eingeführt.

4. Es ist Zeit für den Musterwechsel. Pädagogen und Eltern sind nicht mehr im Bestimmungs- und Erklärungsmodus. Jetzt ist die Zeit für den Wahrnehmungsmodus und die Schaffung einer Atmosphäre des Zutrauens und der Kollaboration. Wahrnehmen verlangt einen Kontakt zur Gegenwart. Psychisch präsent zu sein, verlangt eine fließende Aufmerksamkeit mit der Schülergruppe als Ganzes wie auch in der Wahrnehmung einzelner Schüler.

5. Sich anfreunden mit Themen und Entwicklungen. Sich öffnen, die Erlebnisse an sich heranlassen. Sich dem Erleben stellen. Ein Erlebnis ist präsent, lebendig und erfüllend, wenn es berührt.

6. Pädagogisches Handeln ist etwas, das Kraft gibt. Es erlaubt, mit Menschen in Verbindung zu sein und führt zu einer Zukunft voller Vitalität. Es inspiriert als Quelle, als Feuer und Licht.

7. Impactlernen durch Perspektivwechsel. Der Musterwechsel bewirkt, dass wir viel stärker darauf schauen, was wir bewirken – das ist Impactlernen. Im Perspektivwechsel fragen wir uns: Was erleben die Schüler? Wie erlebe ich mich? Wie erlebe ich Bestätigung, Erfolg und Begeisterung?

8. Die Atmosphäre bestimmt das Klima im Raum. Die Energie im Lernen und die Freude am Wirken. Sich als Handelnder im Aktivieren und Inspirieren verstehen, stärkt das pädagogische Wirken. Mit Anspannung und Entspannung in der Balance. So entwickeln sich die wirksamen Kräfte.

9. Energiecheck. Ist man mit sich im Kontakt? Bin ich mit mir im Reinen, bin ich mit mir froh und entspannt? Kann ich herzlich lachen? Ich muss eine Antenne zu mir ausgefahren haben! Ich muss mich wahrnehmen und meine Wirkung im Umfeld und auf die Schüler! Ich muss mich selbst auf der Leinwand sehen, um mich wahrzunehmen.

Mein Plädoyer an die Pädagogen: Risikointelligenz bedeutet – traut Euch was. Riskiert eine offene Partnerschaft mit den Eltern. Mutet den Schülern eigenständiges Lernen zu. Traut Euch, die virtuellen Lernformen in die Schulen hineinzutragen.

Seid bereit, Eure Lehrerrolle abzulegen. Verabschiedet Euch vom Rechtfertigen und von dem, was unter den schwierigeren Bedingungen nicht geht. Es geht um Beziehungsstunden, um regelmässige Entwicklungsgespräche zwischen Schülern und Lehrern. Wir brauchen Zeit für Rückmeldungen. Es braucht den Dialog zwischen allen Partnern der Schulen. Schüler und Lehrer brauchen eine stärkere Identifikation mit ihrer Schule, gerade in einer Zeit der Ungewissheit.

Es gibt einen größeren Anteil unter den Schülern als erwartet, die aus der Krise eine Chance gemacht haben. Das persönliche Angesprochensein zählt für sie am meisten. Es braucht keine perfekten Konzepte, denn in dieser zunächst desaströsen Corona-Situation liegt längst eine Chance. Mit Schönreden ist die Herausforderung nicht zu meistern.

Die Rückkehr zum Regelbetrieb ist keine Option. Die Lehrer, die in den letzten Monaten nicht mehr Teil des aktiven Kollegiums waren, sind abzuholen und zu integrieren. Schulleitungen arbeiten jetzt im Team und haben eine integrative und entwicklungsoffene Haltung einzunehmen. Sie haben Abschied zu nehmen vom Klagen und sollten lieber das Zusammenspiel der Kräfte üben.

Mit Erstaunen kann man feststellen, dass auch eine Entängstigung eingetreten ist, obwohl noch nicht alle Lösungen gefunden sind. Das vermeintliche Risiko, unter diesen Bedingungen von Angst und Befürchtung etwas zu wagen, bedeutet in Wirklichkeit die Chance, sich gegenseitig Mut zu machen und Lösungen zu entwickeln. Ein Teil der Pädagogen hätte nicht gedacht, dass in dieser hochgradigen Ungewissheit ihre Lösungsenergie die Initiative bestimmt.

Immer wieder hilft die Abstand nehmende Frage: „Worum geht es eigentlich?“ Geht es darum, dass die Schüler, Kinder und Jugendlichen lernen sich zu vertrauen, so dass sie ihre Gestaltungslust und Entdeckungsfreude entwickeln? Sich auf etwas Neues einlassen, ist ein Risiko und eine Chance.

Ich setze auf dieses Potenzial.

Prof. Dr. Schley ist Erziehungswissenschaftler und Mitgründer von intus3 – Professionelles Beziehungslernen für Bildungssysteme. Emeritus der Universität Zürich (Sonderpädagogik), Berater für Schulentwicklung, Psychologe, Coach und Autor. Er kooperiert international.

Foto © Lucas Sankey, unsplash